Das Verfassen eines Arbeitszeugnisses mag für viele Unternehmen ein Standardvorgang sein. Doch er steckt auch voller Tücken. Die selbstständige Zeugnis- und HR-Spezialistin Karin Flückiger gibt uns in diesem Interview spannende Einblicke.
Dieses Interview ergänzt unsere Tipps vom 13.10.2016: Wie verfasse ich ein Arbeitszeugnis?
Wer ein Zeugnis schreibt, muss sich an zwei Pflichten halten: diejenige zur Wahrheitstreue und zur «wohlwollenden Formulierung». Diese können in einem ausdrücklichen Widerspruch zueinander stehen. Um es plakativ zu formulieren: Soll man nun ehrlich oder nett sein?
K. Flückiger: Mit dieser Frage müssen sich viele Unternehmen beschäftigen. Wobei ja kaum einmal offen negativ formuliert wird, weil man rechtliche Schritte befürchtet, die vermutlich ohnehin zu einer Streichung der negativen Passage führen würden. Wenn ganz konkrete Umstände vorliegen, die auch für das nächste Arbeitsverhältnis relevant sein könnten, tut man jedoch gut daran, diese auch zu benennen. Darunter fallen beispielsweise ein Diebstahl oder eine gewalttätige Auseinandersetzung. In solchen Fällen hat man ganz einfach eine Verpflichtung gegenüber anderen Unternehmen.
Gleichzeitig sollte man nicht vergessen: Falls es negative Vorkommnisse gegeben hat, sind meistens von beiden Seiten Emotionen im Spiel. Deswegen empfehle ich, vor dem Verfassen des Zeugnisses einen Moment vergehen zu lassen, in sich zu gehen und sich zu fragen: Was hat derjenige denn für unser Unternehmen geleistet? Dass jemand während seiner gesamten Anstellungsdauer nur Mist baut, salopp formuliert, kommt doch praktisch nie vor.
Zeugnisse bestehen häufig aus den immer wieder gleichen Standardformulierungen. Tue ich einem scheidenden Mitarbeiter einen Gefallen, wenn ich mich von diesen löse – also sozusagen «freihändig» schreibe?
K. Flückiger: Absolut. Ich plädiere hierbei für absolute Individualität. Leider ist das bei vielen Unternehmen gar nicht möglich, weil der Prozess zur Zeugniserstellung häufig standardisiert ist und oft von einer Software vorgegeben oder unterstützt wird. Selbst falls dies nicht zutrifft, ist es ja auch eine Frage der Zeit: Kann ein Unternehmen sich den Aufwand leisten, der mit einem sehr persönlichen Zeugnis verbunden ist? Doch es besteht kein Zweifel: Für den betreffenden Mitarbeiter ist ein individuelles Zeugnis das Nonplusultra. Für einen Personaler liest sich das völlig anders: Er sieht, dass man sich für diesen Menschen Zeit genommen hat, sich Gedanken gemacht hat und ihn mit allen Facetten beschreibt. Statt floskelhaft festzuhalten, dass jemand in hektischen Situationen den Überblick bewahrt, könnte man ein Beispiel geben. Nur ist das eben ein Luxus, den sich kaum jemand mehr leisten kann. Kleinere Unternehmen haben oft den Vorteil, kürzere Kommunikationswege zu nutzen um sich auch mal mit der Personalabteilung auszutauschen, womit eine individuellere Ausgestaltung des Arbeitszeugnisses möglich wird.
Auch für den Mitarbeiter selbst hat das Zeugnis so einen anderen Stellenwert, weil es eine besondere Wertschätzung zum Ausdruck bringt…
K. Flückiger: Ganz genau! Deswegen widerstrebt es mir manchmal, wenn ich Zeugnisse aus einigen Grosskonzernen lese. Teilweise kann man an den Formulierungen erkennen, um welches Unternehmen es sich handelt. Man weiss: Die Führungskraft hatte einige Multiple-Choice-Fragen zu beantworten, und daraus wurde ein Zeugnis generiert. Aus dem Ergebnis kann man kaum mehr etwas ableiten.
Doch oft gibt es einfach keinen anderen realistischen Weg…
K. Flückiger: Das stimmt so nicht ganz; es gibt einige simple Mittel, um für Individualität zu sorgen. Auch wenn man einen standardisierten Prozess hat, sollten der Führungskraft im Beurteilungsbogen «Freifelder» zur Verfügung gestellt werden, damit sie zumindest einige der persönlichen Eindrücke beschreiben können, um somit der zu beurteilenden Persönlichkeit gerecht zu werden. Natürlich müssen diese dann auch benutzt werden, etwa um besondere Leistungen zu nennen oder grössere Projekte und Erfolge, an denen die Person beteiligt war. Man sagt damit so viel mehr aus!
«Dieses Zeugnis ist nicht codiert» stand und steht unter vielen Zeugnissen. Ist dieser Vermerk sinnvoll?
K. Flückiger: Zuerst stellt sich die Frage: Was ist überhaupt eine Codierung? Grundsätzlich heisst Codierung, dass man negative Formulierungen vermeidet und sie durch scheinbar positive ersetzt. Ein Beispiel: Einem Mitarbeiter fällt es schwer, mit hektischen Situationen umzugehen. Dann steht im Zeugnis: «In einem geregelten Ablauf bringt der Mitarbeiter ausgezeichnete Leistung». Der negative Teil wird also komplett ausgeklammert. Das halte ich für schwierig: Die Aussage entspricht der Wahrheit, aber die Botschaft an jeden, der das Zeugnis liest, liegt auf der Hand.
Ganz abgesehen von der Notwendigkeit: Die Aussage «enthält keine Codierungen» ist doch sowieso recht mutig. Ich erkläre damit schliesslich, über Codierungen auf dem Laufenden zu sein. Doch man kann ja nie zu hundert Prozent sicher sein, nicht unwissentlich eine Phrase eingebaut zu haben, die anderen als Codierung gilt.
K. Flückiger: Die Tendenz geht auch klar in die Richtung, keine solchen «Disclaimer» mehr anzubringen. Wenn sie ein Zeugnis hundert unterschiedlichen Menschen zum Lesen geben, werden sie 100 unterschiedliche Interpretationen erhalten. Daran ändert sich nichts durch den Vermerk, dass das Zeugnis keine Codierungen enthält. Ich glaube, dass viele Unternehmen gar nicht mehr hinterfragen, ob es wirklich sinnvoll ist, einen entsprechenden Vermerk zu machen oder nicht.
Frau Flückiger, vielen Dank für dieses Gespräch!
Karin Flückiger berät Arbeitnehmende und Unternehmen unter anderem bei Fragen rund um das Arbeitszeugnis, Arbeitsrecht und bietet Unterstützung beim Bewerbungsprozess.
Kommentare
Wirklich ein sehr lesenswertes Interview!
In meiner Position mit Führungsverantwortung würde ich es begrüssen, indivualisiertere Arbeitszeugnisse von Bewerbern zu lesen. Leider sagen viele Arbeitszeugnisse immer weniger aus (um nicht zu sagen: weichgespült). Dies führt letztlich dazu, dass zusätzlich Abklärungen, z.Bsp. Telefon-Interview, durchgeführt werden müssen, bevor man sich effektiv entscheiden kann, ob man eine Bewerbung weiterverfolgen will. Schade, dass diese Führungsverantwortung aufgrund von vermeintlichen Optimierungen immer seltener wahrgenommen wird.
Interessanterweise beklagen Führungskräfte die mangelnde Individualität beim eigenen Arbeitszeugnis, obwohl sie bei ihren Mitarbeitern, vielleicht während Jahren, nur Standard-„Phrasen“ verwendeten.
Mit solchen Artikeln und der aussagekräftigen Website von Frau Flückiger, bin ich der guten Hoffnung, dass die Individualisierung von Arbeitszeugnissen wieder vermehrt Anhänger findet.